Was bringt der digitale Produktpass?
Was bringt der digitale Produktpass?
Die EU-Ökodesign-Verordnung (ÖDV), die im Dezember 2023 zwischen der Kommission, Rat und Parlament abgestimmt wurde und im April 2024 durch das Europäische Parlament ging, löst weitreichende Veränderungen aus. Denn mit der ÖDV wurde der digitale Produktpass als zukünftige Zugangsvoraussetzung für Produkte in den europäischen Markt festgelegt und inhaltlich grob beschrieben. Damit findet ein Paradigmenwechsel in der Technischen Dokumentation statt: Bisher war es den Marktteilnehmern weitgehend freigestellt, ob sie zusätzlich zu gedruckten Anleitungen Produktinformationen digital bereitstellen wollen. Zukünftig wird es zur Pflicht, Produktdokumentationen digital bereitzustellen.
Bisher werden digitale Produktinformationen als PDF zum Download oder als HTML5 ausgeliefert. In Zukunft werden andere Arten der digitalen Bereitstellung gefordert. Daher arbeiten einige Hersteller an der Umsetzung des digitalen Typenschilds, haben dieses für bestimmte Produkte bereits eingeführt und stellen ihre Informationen nach dem tekom-Standard iiRDS bereit. In diese Richtung wird die Standardisierung zur Verteilung von Produktinformationen weiterentwickelt. In den kommenden Jahren wird die EU nach und nach für alle Produkte festlegen, welche konkreten Informationen im digitalen Produktpass (DPP) online bereitgestellt werden müssen.
Hintergrund und Ziel
Warum macht die EU hinsichtlich digitaler Dokumentation so weitreichende und konkrete Vorgaben für den europäischen Markt? Die ÖDV und der darin beschriebene DPP ist Teil des Green Deals. Gemeint ist das Ziel, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dazu gehören neben der Energiewende, der umfassenden Digitalisierung aller Prozesse in Verwaltung und Wirtschaft, sowie der Etablierung einer Kreislaufwirtschaft auch Themen wie die Reparierbarkeit von Produkten, deren Wiederverwendung und das Recycling der enthaltenen Rohstoffe. Dabei soll auch der CO2-Fußabdruck eines jeden Produktes transparent gemacht und die Haltbarkeit der Produkte verlängert werden. Zudem dürfen bestimmte Produkte in Zukunft nicht mehr vernichtet werden.
Da der Europäische Rat, das EU-Parlament und die Kommission den DPP nicht für alle Wirtschaftsbereiche gleichzeitig detailliert ausarbeiten können, ist mit der ÖDV zunächst ein Rahmen geschaffen worden. Dieser ermächtigt die Europäische Kommission so genannte delegierte Rechtsakte zu erlassen. Damit werden in den nächsten Jahren nach und nach für jede Branche entsprechende Verordnungen erarbeitet. Die erste Umsetzung auf Basis der ÖDV wird die neue Batterieverordnung sein. Diese greift die Forderungen der ÖDV auf und konkretisiert sie für die Batteriebranche. Die betroffenen Batteriehersteller (Batterien ab 2 kWh) erarbeiten zurzeit in ihren Verbänden, welche Informationen der digitale Batteriepass enthalten muss. Ähnliches ist mit einer Textilverordnung vorgesehen. Für weitere Branchen werden in den nächsten Jahren die delegierten Rechtsakte erarbeitet. Für welche Branche als Nächstes entsprechende Verordnungen folgen werden, steht noch nicht fest. Bei der Auswahl ist der Effekt für das Ziel der Klimaneutralität ausschlaggebend. Branchen, in denen viele Ressourcen verbraucht werden, sind früher an der Reihe. Die Prioritätenliste wird öffentlich diskutiert und ist auf den Seiten der EU einsehbar.
Um diese Informationen geht es
Zum Umfang des DPP gehören:
- Informationen über besorgniserregende Stoffe, die im Produkt enthalten sind.
- Produkt und Leistungsdaten (technische Daten).
- Informationen für Verbraucher und andere Endnutzer über die Installation, Nutzung, Wartung und Reparatur des Produkts.
- Informationen zu Auswirkungen des Produkts auf die Umwelt; diese Auswirkungen sind so gering wie möglich zu halten. Bislang werden diese Informationen nur selten erhoben und bereitgestellt.
- Informationen zur optimalen Haltbarkeit sowie über die Rückgabe oder Entsorgung des Produkts am Ende seiner Lebensdauer.
- Informationen für Behandlungsanlagen zur Zerlegung, zum Recycling oder zur Entsorgung des Produkts am Ende der Lebensdauer.
- Sonstige Informationen, die die Handhabung des Produkts durch andere Parteien als den Hersteller beeinflussen können, um die Leistung der Produktparameter zu verbessern.
Viele dieser Informationen werden durch heutige Bedienungsanleitungen, Gebrauchsanweisungen und Betriebsanleitungen schon abgedeckt. Neu sind die Informationen zu Recyclinganlagen, der Haltbarkeit und den Auswirkungen auf die Umwelt, sowie die umfangreichen Angaben zur Reparatur. Deutlich herausfordernder als die Zurverfügungstellung der Inhalte ist die Art und Weise, wie die Informationen bereitgestellt werden müssen.
Der DPP ist als Informationsdrehscheibe gedacht (Abb. 1). Von der Entstehung bis zur Entsorgung eines Produkts sollen allen Wirtschaftsteilnehmern die Informationen bereitgestellt werden, die sie betreffen. Weiterhin ist vorgesehen, dass Rückmeldungen und ein bidirektionaler Informationsaustausch mit dem DPP möglich sein sollen.
So erhält beispielsweise der Hersteller einer Maschine von einem Zulieferer den DPP eines zugekauften Bauteils und integriert ihn in den DPP seiner Maschine oder verweist darauf. Für seine Maschine erstellt er einen eigenen DPP und stellt darin die Informationen bereit, die der jeweilige delegierte Rechtsakt für seine Branche fordert. Die Marktaufsicht muss sich dann nicht mehr durch Berge von Papier arbeiten, sondern kann eine Zulassung auf Basis der Daten im DPP vornehmen. Angedacht ist, dass Nutzer des DPP daraus Informationen entnehmen und – mit entsprechenden Berechtigungen – auch Informationen abspeichern können. Auf diese Weise lassen sich Vorkommnisse, Feedback und Verbesserungsvorschläge mit dem Handel, den Nutzern und den Reparaturbetrieben über den DPP austauschen. In Fachkreisen wird diskutiert, ob ein Gerät, eine Maschine oder eine Anlage selbst aktuelle Daten im DPP ablegen darf. Beispielsweise könnten bei Batterien die Anzahl der Ladezyklen oder bei Maschinen die Sensordaten zu Verschleißteilen im DPP abgelegt werden. Hiermit sind umfangreiche Überlegungen zu Datenschutz, Datensicherheit und Zugangsberechtigungen verbunden. Dies ist dem Verordnungsgeber bewusst und in der ÖDV berücksichtigt. Ebenfalls berücksichtigt ist die Wirtschaftsstärke und Größe der Marktteilnehmer. So sollen kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) dabei unterstützt werden, die Vorgaben der ÖDV erfüllen zu können.
Damit alle Marktteilnehmer Zugang zu den jeweils benötigten Informationen haben, stellt die ÖDV eine Reihe von Anforderungen an den DPP: „Alle im Produktpass enthaltenen Informationen beruhen auf offenen Standards, die in einem interoperablen Format entwickelt wurden und müssen maschinenlesbar, strukturiert und durchsuchbar sein …“ (Artikel 9, Absatz 1d). In den Artikeln 9 und 10 werden weitere Rahmenbedingungen beschrieben, bei deren Lektüre sehr schnell klar wird, dass die Erstellung des DPP eine weitere herausfordernde Aufgabe für die Hersteller, deren Bevollmächtigte oder Importeure im europäischen Markt wird. Auch auf die Technischen Redaktionen kommt mit der Bereitstellung der DPP eine umfangreiche Aufgabe zu.
Digitalisierung der Prozesse
Heute stellen viele Redaktionen ihre Technische Dokumentation als PDF oder im HTML5-Format online bereit. Diese Formate reichen in Zukunft nicht aus. Technische Redaktionen sollten sich zunächst damit beschäftigen, wie sie ihre Informationen mit Metadaten anreichern und ihre Prozesse stärker automatisieren (Abb. 2). Im zweiten Schritt sollten sie einen offenen, maschinenlesbaren Standard auswählen, mit dem sich Daten aufbereiten und im DPP darstellen lassen.
Die Anforderungen im Detail
Artikel 10 der ÖDV steckt den technisch-organisatorischen Rahmen ab:
- Produktpässe müssen in Bezug auf die technischen, semantischen und organisatorischen Aspekte der Ende-zu-Ende-Kommunikation und der Datenübertragung vollständig interoperabel mit anderen Produktpässen sein.
- Verbraucher, Wirtschaftsteilnehmer und andere maßgebliche Akteure haben auf der Grundlage ihrer jeweiligen Rechte freien Zugang zum Produktpass.
- Die im Produktpass enthaltenen Daten werden von dem für seine Ausstellung verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer oder von Unternehmen, die befugt sind, in seinem Namen zu handeln, abgespeichert.
- Werden die im Produktpass enthaltenen Daten von Unternehmen gespeichert oder anderweitig verarbeitet, die befugt sind, im Namen eines Wirtschaftsteilnehmers zu handeln, dürfen diese Unternehmen die Gesamtheit oder Teile der Daten nicht verkaufen, weiterverwenden oder über das für die Erbringung der betreffenden Speicher- oder Verarbeitungsdienste erforderliche Maß hinaus verarbeiten.
- Der Produktpass bleibt während des Zeitraums, der in den gemäß Artikel 4 erlassenen delegierten Rechtsakten festgelegt wurde, verfügbar, auch nach einer Insolvenz, einer Liquidation oder der Einstellung der Tätigkeit des Wirtschaftsteilnehmers in der Union, der den Produktpass ausgestellt hat.
- Das Recht auf den Zugang zum Produktpass sowie auf die Eingabe, Änderung oder Aktualisierung von Informationen im Produktpass wird auf der Grundlage der Zugangsrechte eingeschränkt, die in gemäß Artikel 4 erlassenen delegierten Rechtsakten festgelegt sind.
- Die Authentizität, Zuverlässigkeit und Integrität der Daten sind zu gewährleisten.
- Produktpässe sind so zu gestalten und einzusetzen, dass ein hohes Maß an Sicherheit und Privatsphäre gewährleistet und Betrug vermieden wird.
Die weiteren 70 Artikel der ÖDV regeln, welche zusätzlichen Anforderungen an das Ökodesign gestellt werden. Dabei ist dem Verordnungsgeber klar, dass nicht alle Produkte auf dem europäischen Markt mit gleicher Priorität einen DPP einführen können. Die Artikel 16 bis 19 geben vor, nach welchen Kriterien welche Branchen und Unternehmen die ÖDV umsetzen und den DPP einführen müssen. Vorreiter dafür ist die Batteriebranche, gefolgt von der Textil- und Schuhbranche, der Informations- und Kommunikationstechnologie, aber auch einer Reihe von Zwischenprodukten, etwa Eisen und Stahl.
Anfang 2025 soll die Priorisierung abgeschlossen sein. Die Batterieverordnung, als erster delegierter Rechtsakt auf Basis der ÖDV, kann frühestens Mitte 2025 erlassen werden. Voraussichtlich 2027 wird die Verordnung verbindlich. Für weitere Produkte und Branchen werden bis 2030 gemäß der Priorisierung eine Vielzahl weiterer delegierter Rechtsakte erarbeitet und in Kraft gesetzt.
Technische Umsetzung
Als Beispiel für die künftige technische Umsetzung des DPP können die Entwicklungen rund um den digitalen Batteriepass dienen (Abb. 3). Hier zeichnet sich ein Zusammenspiel der Asset Administration Shell (AAS), auch Verwaltungsschale genannt, und dem ECLASS-Standard ab.
Damit die Verwaltungsschale automatisiert befüllt werden kann, steht eine API-Schnittstelle zur Verfügung. So können Daten aus unterschiedlichen Systemen in die Teilmodelle eines Assets eingespielt werden. Der fertig befüllte DPP wird über eine eindeutige Identifikation gemäß ISO/IEC 15459-2:2015 aufgerufen. Dies wird meist eine URL sein. Die Identifikation ist auf einem Datenträger am Produkt als QR-Code, NFC- oder RFID-Chip angebracht. Nach dem Aufruf der URL sind dann dort die Informationen maschinenlesbar und über eine Benutzeroberfläche abrufbar.
So sieht das Vorgehen aus
Auch wenn das Ziel, den DPP für alle Produkte einzuführen, noch in einiger Ferne liegt, ist es dennoch sinnvoll, sich jetzt damit zu beschäftigen. Einerseits, um sich damit vertraut zu machen und zu lernen, was die zukünftigen Anforderungen sein werden. Andererseits, weil die finanziellen und zeitlichen Herausforderungen für ein Projekt dieser Tragweite häufig nicht in zwei oder drei Jahren zu stemmen sind. Daher ist jetzt die Zeit, Projektteams zu bilden, die eine Digitalisierungsstrategie erarbeiten und den Weg in das digitale Zeitalter der Technischen Dokumentation ebnen.
Bei dieser Gelegenheit lohnt es sich, andere Themen mit abzuarbeiten, die sich rund um die Technische Dokumentation in einem Unternehmen angesammelt haben. In die Digitalisierungsstrategie können – außer den Anforderungen der ÖDV – weitere Themen einfließen, wie die neuen Möglichkeiten der Maschinenverordnung zu nutzen, das digitale Typenschild umzusetzen, Prozessoptimierungen zur Nachhaltigkeit vorzunehmen, sowie sonstige Probleme mit manchmal zahlreich vorhandenen Datensilos zu lösen (Abb. 4).
Zur Erarbeitung der Digitalisierungsstrategie werden die Entscheidungsträger aus allen betroffenen Abteilungen sowie die Geschäftsleitung benötigt. Die betroffenen Abteilungen können neben der Technischen Redaktion, Entwicklung, Service, IT und Marketing sein. Wenn die Digitalisierungsstrategie entworfen und beschlossen ist, gibt es ein gemeinsames Ziel, das die unterschiedlichen Abteilungen für die nächsten Jahre ausrichtet und das Unternehmen auf den DPP vorbereitet.
Absehbar ist, dass Technische Redaktionen, die sich bereits intensiv mit der Vergabe und Pflege von Metadaten beschäftigt und ihre Redaktionsumgebung strukturiert aufgebaut haben, ein Stück des Weges hin zum DPP schon geschafft haben. Dennoch bleibt auch hier die Herausforderung, den passenden offenen Standard zu finden und die entsprechenden Datenpakete bereitzustellen. Nicht allen KMU dürfte es leichtfallen, Kenntnisse und Fähigkeiten aufzubauen und einen DPP zu erzeugen. Eine Alternative kann es dshalb sein, sich durch Dienstleister beraten zu lassen und Lösungen anzupassen, die bereits bei anderen Unternehmen der eigenen Barnche eingesetzt werden.
Der Fokus verschiebt sich
Die Transformation der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft wird weiter gehen. Ob der Umbau im gleichen Tempo wie in den vergangenen Jahren vorangetrieben und der skizzierte Zeitplan Bestand haben wird, darf bezweifelt werden. Dass die ÖDV wirkungslos verpufft, ebenfalls. Wahrscheinlich werden die delegierten Rechtsakte auf Basis der ÖDV wirtschaftsfreundlicher ausfallen und etwas verzögert in Kraft treten.
Was ganz sicher ist: Wenn sich die Technische Redaktion nicht primär mit dem DDP beschäftigt und das Thema ins Unternehmen hineinträgt, dann werden dies andere Abteilungen tun. Alle Redaktionen, die sich seit Jahren bemühen, die Digitalisierung voranzutreiben und Prozesse zu automatisieren, bekommen mit dem DPP ein starkes Argument an die Hand, um jetzt die entscheidenden Schritte anzugehen und den geforderten Digitalisierungsprozess aus Sicht der Technischen Redaktion zu beeinflussen. Zögern Sie also nicht, sich mit dem Thema vertraut zu machen.
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